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Inklusion geht auch andersrum. In Leipzig

Eine Förderschule für Kinder mit geistigen Behinderungen nimmt jetzt auch Schüler ohne Handicaps auf. Manche Bewerber müssen jedoch abgelehnt werden.

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Klassenleiterin Susanne Flögel ist mit ihren Schülern zufrieden. Viele können schon lesen.
Klassenleiterin Susanne Flögel ist mit ihren Schülern zufrieden. Viele können schon lesen. © Swen Reichhold

Eigentlich heißt Inklusion, dass sich eine ganz normale Regelschule für Kinder mit Behinderungen und besonderen Förderbedarfen öffnet. Die Werner-Vogel-Schule der Diakonie in Leipzig hat den Spieß jetzt allerdings umgedreht: Als eine von ganz wenigen in Deutschland hat die Förderschule für Kinder mit geistigen Beeinträchtigungen Regelschüler ohne Handicaps aufgenommen. In einer ersten Klasse lernen seit diesem Schuljahr 15 Kinder ohne und vier Kinder mit Förderbedarf bei der geistigen Entwicklung zusammen. Und die Beteiligten sind nach den ersten Wochen ziemlich glücklich.

„Die Kinder sind enorm weit, viele lesen schon jetzt“, sagt Klassenleiterin Susanne Flögel. Sie hat viele Jahre an Grundschulen unterrichtet und gezielt für das außergewöhnliche Projekt den Job gewechselt. Die guten Fortschritte der Schüler sind nicht zuletzt ein Erfolg der individuellen Betreuung: Mit den 19 Kindern arbeiten oft vier Fachkräfte zugleich in der Klasse. Neben Susanne Flögel und einer Förderschullehrerin gehören zum Team auch eine Heilerziehungspflegerin und ein Horterzieher sowie Teilnehmer des Freiwilligen Sozialen Jahres und des Bundesfreiwilligendienstes. Hinzu kommt eine Fachlehrerin für Kunst und Religion. „Für mich sind die Bedingungen einfach Luxus“, sagt Lehrerin Susanne Flögel. „Ich kann mit jedem Kind individuell arbeiten.“ Neben den guten Lernfortschritten würden die Schüler ihre sozialen Kompetenzen vergrößern und anderen Kindern wie selbstverständlich helfen. „Kinder gehen mit Behinderungen viel natürlicher um“, sagt die studierte Förderschullehrerin. Ein Grundschüler habe schon gesagt, in seiner Klasse seien ja keine Behinderten.

Beim Unterrichten helfen auch die reformpädagogischen Ansätze nach Montessori und Jenaplan. Dazu gehören persönliche Wochenpläne und Freiarbeiten je nach dem individuellen Stand der Kinder, selbstständiges Arbeiten und gemeinschaftliches Lernen. Frontal unterrichtet wird nur, um ein neues Thema einzuführen. „Natürlich erfordern diese Methoden mehr Vorbereitung und viele Abstimmungen“, sagt Susanne Flögel. „Aber der Mehraufwand lohnt sich.“ Außerdem sei es schön, Verantwortung abgeben zu können.

Profitieren von dem Projekt würden ebenso die Förderschüler, betont die pädagogische Leiterin und Begründerin der Idee, Christiane Burger. „Die Kinder lernen sehr viel durch Abgucken und entwickeln sich super.“ Wichtig sei ihr dabei die Integration einer ganzen Gruppe – damit nicht ein einzelnes Kind mit Behinderung wie ein Sonderling in einer Klasse sitzt. „Alle Kinder sollen profitieren“, betont Burger.

Herausragend bei dem ungewöhnlichen Inklusionsprojekt ist zudem die räumliche Ausstattung. Die Grundschule kann alle Fachräume der Förderschule mit nutzen: Turnhalle und Schwimmbad, Werkraum und Lehrküche, Entspannungsraum und weitere Fachräume. Schon das Klassenzimmer bietet mit 90 Quadratmetern viel Raum zum Unterrichten. „Wenn man in kleineren Lerngruppen arbeiten will, braucht man mehr Platz“, sagt Schulleiter Tobias Audersch. Allerdings findet in dem Raum nach dem Unterricht auch die Hortbetreuung statt – bis zum geplanten Umbau im nächsten Jahr.

Die Eltern der Klasse stammen sowohl aus der Nachbarschaft wie auch aus dem kirchlichen und dem universitären Umfeld. „Wir machen durchweg positive Erfahrungen“, sagt Elternsprecherin Hannah Parron. Sie hat ihren Sohn Jonas an der Schule angemeldet, nachdem sie Flyer in der Kita gelesen und einen Infoabend besucht hatte. „Janosch ist super aufgehoben und lernt sehr schnell“, erzählt sie. Der Umgang in der Klasse helfe ihm auch, seinen eigenen Ehrgeiz zu hinterfragen. Für Kinder spiele eine Behinderung ohnehin nicht die gleiche Rolle wie für Erwachsene, sagt Parron. Freundschaften würden nach anderen Kriterien geschlossen – auch mit Förderkindern aus anderen Klassen.

Einen ähnlichen Weg hat bereits die Evangelisch-diakonische Grundschule in Löbau beschritten. Auch dort lernen Kinder mit und ohne sonderpädagogischen Bedarf im Unterricht zusammen. Die Pädagogen der Werner-Vogel-Schule haben da einen längeren Weg hinter sich: Seit Jahren hatten sie Schüler mit Behinderungen an einer inklusiven Waldorfschule betreut. Dabei entstand die Idee, dass man es auch selbst machen könnte – mit umgekehrten Vorzeichen. Nach jahrelangen Vorbereitungen und Gesprächen mit Kollegen wurde schließlich im Sommer die Grundschule innerhalb der Förderschule gegründet.

Künftig soll jedes Jahr eine weitere Klasse hinzukommen. Binnen vier Jahren können dann rund 85 Kinder an der Grundschule und ebenso viele an der Förderschule unter dem gemeinsamen Dach des Schulzentrums lernen. „Klar ist aber auch, dass das Konzept nicht für alle Kinder passt“, sagt Schulleiter Audersch. Manche Bewerber werde man in Zukunft auch ablehnen müssen. Am Ende der vier Jahre steht den heutigen Grundschulfreunden allerdings ein Abschied bevor: Während die vier Förderschüler an der Werner-Vogel-Schule bleiben können, werden ihre Freunde nach der 4. Klasse weggehen und an andere Schulen wechseln. (Sven Heitkamp)