Merken

18 Jahre, 48 Kilo: Henrik braucht Hilfe

Auch viele junge Menschen brauchen schon eine Reha in Spezialkliniken wie in Bad Gottleuba. Welche Therapien können Ihnen helfen?

Von Steffen Klameth
 7 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Henrik Marten wiegt mit seinen 18 Jahren nicht mal 50 Kilo. Eine vierwöchige Reha in der Kinder- und Jugendklinik in Bad Gottleuba sollte ihm beim Umgang mit der Krankheit helfen.
Henrik Marten wiegt mit seinen 18 Jahren nicht mal 50 Kilo. Eine vierwöchige Reha in der Kinder- und Jugendklinik in Bad Gottleuba sollte ihm beim Umgang mit der Krankheit helfen. © Ronald Bonß

Henrik Marten ist 18 Jahre alt und ein ziemlich schmächtiges Bürschchen: 1,65 Meter klein, 48,5 Kilo leicht. „Andere beneiden mich dafür“, sagt er. Und dass er gern größer, schwerer, kräftiger wäre. Doch zwischen Wunsch und Wirklichkeit steht ein Problem: „Ich spüre einfach keinen Hunger.“ Essen ist für ihn kein Vergnügen, im Gegenteil. Schon bei dem Gedanken daran habe er manchmal das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Und oft sei ihm schon am Morgen so übel, dass er es nicht zur Schule schafft. „Dort glaubte man, ich will nur schwänzen“, erzählt er. Auch viele Ärzte hätten ihn nicht ernst genommen, sodass er mehrmals den Hausarzt wechselte. Erst habe man eine Fructoseintoleranz festgestellt, dann wurde Weizen vom Speiseplan gestrichen. Dazu kommt noch ein Zwerchfelldurchbruch. Auf Anraten seiner Mutter entschloss er sich schließlich zu einer Reha: „Einen Versuch war es wert.“ Vier Wochen verbrachte der junge Mann aus dem brandenburgischen Stahnsdorf in der Kinder- und Jugendklinik in Bad Gottleuba.

Die Klinik

Ein großer Park, darin weit verstreut drei Dutzend Gebäude: Wer zum ersten Mal das Klinikgelände in Bad Gottleuba betritt, kann schnell mal die Orientierung verlieren. Und außer Puste geraten, denn die Anlage klebt förmlich an einem steilen Hang. 1913 wurde sie als erste Arbeiterheilstätte Deutschlands eröffnet. In der DDR war sie das erste Kliniksanatorium. Nach der Wende ging sie in den Besitz der Landesversicherungsanstalt Sachsen über. Seit über drei Jahren ist die Liegenschaft an den Median-Konzern verpachtet. Der betreibt hier insgesamt sechs Fachkliniken – darunter auch die Klinik für Kinder und Jugendliche. Die Diagnosen

Wenn Kinder krank werden, dann ist das in den meisten Fällen schnell auskuriert. Doch auch im jungen Alter – und manchmal bereits mit der Geburt – können Krankheiten auftreten, die das Leben über einen längeren Zeitraum oder gar dauerhaft beeinträchtigen. Eine frühzeitige Reha bietet die Chance, dass die Betroffenen künftig einen Beruf erlernen und selbstständig ihr Leben gestalten können. Seit 2017 sind Reha-Maßnahmen für Kinder und Jugendliche eine Pflichtleistung der Rentenversicherung. Im gleichen Jahr stieg die Zahl der jungen Reha-Patienten auf rund 35 000 – so viele wie noch nie. Häufigste Gründe waren Asthma bronchiale und andere Atemwegserkrankungen, Hautkrankheiten, Adipositas sowie psychische und Verhaltensstörungen. Daneben werden unter anderem auch Krebserkrankungen, Diabetes und Immundefekte in einer Reha behandelt.

Die Kliniken

In Sachsen haben sich vier Reha-Kliniken auf die Behandlung junger Patienten spezialisiert. Sie decken allerdings nicht alle Krankheiten ab. „Bei Erkrankungen der Atemwege werden die jungen Patienten beispielsweise in Thüringen und Sachsen-Anhalt, aber auch in anderen Bundesländern behandelt“, sagt Dr. Ursula Wächter von der Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland.

Die Patienten

Die Altersspanne in der Kinder- und Jugend-Reha ist weit gefasst. In der Median-Klinik Bad Gottleuba werden nach Auskunft von Chefarzt Dr. Milan Meder Patienten im Alter von 2 bis 22 Jahren behandelt. Die Mehrzahl sei zwischen acht und 15 Jahren alt, wobei die Geschlechter gleich stark vertreten sind. Der Schwerpunkt liege auf psychischen und Verhaltensstörungen, Anpassungs- und Essstörungen, Sprach- und Sprechstörungen, Hyperaktivität und Konzentrationsschwäche, Einnässen und Einkoten ohne körperliche Ursache sowie auf Störungen des Sozialverhaltens. „Manche haben schon eine Heimkarriere oder ein Dutzend Psychiatrieaufenthalte hinter sich“, sagt Meder.

Eine Besonderheit in Bad Gottleuba ist die Familienklinik: Hier sind Kinder und Eltern gemeinsam untergebracht – entweder als Begleitperson oder beiderseits als Patienten. Die Kinder und der Elternteil – manchmal auch Oma oder Opa – erhalten dann unabhängig voneinander eine Therapie. „Der Schwerpunkt liegt auf psychotherapeutischer Arbeit“, erklärt der Chefarzt.

Die Therapie

Ohne konkretes Ziel kein Erfolg: Was für die Reha ganz allgemein gilt, habe bei jungen Menschen ganz besondere Bedeutung, erklärt Dr. Meder: „Kinder und Jugendliche brauchen eine klare Zielsetzung.“ Deshalb werden zu Beginn zahlreiche Gespräche geführt – mit Ärzten, Pädagogen, Psychologen. Auf dieser Grundlage erarbeiten die Fachleute einen individuellen Therapieplan für jeden Patienten. Bei Kindern mit Übergewicht – der Extremfall war ein elfjähriges Mädchen, das 150 Kilo wog – stehen etwa viel Bewegung und Ernährungsberatung im Mittelpunkt.

Bei Patienten mit psychischen Diagnosen ist die Gruppentherapie ein fester Bestandteil. Dabei gehe es unter anderem darum, sie „aus der chemischen Zwangsjacke zu befreien“. Das heißt: weniger Medikamente, mehr emotionale Fähigkeiten. „Meist haben wir es mit gestörten Eltern-Kind-Beziehungen zu tun“, sagt Meder. „Dem Therapeuten kommt dann die Rolle des hilfreichen Dritten zu.“ Das erfordere auch einen kritischeren Umgang mit den Eltern – bis hin zur Empfehlung einer vollstationären Jugendhilfemaßnahme.

Der Tagesablauf

In Bad Gottleuba werden die jungen Patienten 6.30 Uhr geweckt, 7.15 Uhr gibt es Frühstück. Daran schließen sich der (verkürzte) Unterricht in der klinikeigenen Schule sowie Therapien – zum Beispiel in der Gruppe oder Schwimmen – an. Nachmittags steht noch mal Unterricht auf dem Plan, ebenso Sport oder Gruppenaktivitäten. Regelmäßige Mahlzeiten sind ein wesentlicher Baustein der Therapie. Nach dem Abendbrot haben die jungen Leute Freizeit, die Nachtruhe ist altersabhängig. Am Wochenende können die Patienten ausschlafen, sonnabends werden Exkursionen angeboten, sonntags ist der Besuch der Schwimmhalle möglich.

Die Therapiedauer

Eine Kinder- und Jugend-Reha dauert in der Regel sechs Wochen. „In Ausnahmefällen kann sie auch auf bis zu zwölf Wochen verlängert werden“, erklärt Dr. Meder.

Der Antrag

Die Initiative für eine Kinder- und Jugend-Reha geht meist vom Haus- oder Kinderarzt aus – häufig im Zusammenhang mit einer Vorsorgeuntersuchung. Den Antrag müssen allerdings die Eltern stellen. In den allermeisten Fällen ist dafür die Deutsche Rentenversicherung zuständig.

Die hundert Plätze der Kinder- und Jugendklinik in Bad Gottleuba sind begehrt. „Patienten, die allein anreisen, warten im Schnitt drei Monate“, sagt der Chefarzt. In der Familienklinik könne sich die Wartezeit auf ein halbes Jahr verlängern. Seit vergangenem Jahr haben Kinder bis zum zwölften Lebensjahr Anspruch auf die Begleitung durch Familienangehörige, und zwar unabhängig von der Schwere der Erkrankung. Bisher war das nur bis zum zehnten Lebensjahr möglich. Auf Antrag zahlt die Rentenversicherung dann nicht nur für Unterkunft und Verpflegung, sondern auch für den Verdienstausfall. Das Flexirentengesetz hat auch die vierjährige Wartefrist für die Wiederholung einer Kinder- und Jugend-Reha abgeschafft. „Eine erneute Behandlung ist jetzt in deutlich kürzeren Abständen möglich“, erklärt die Deutsche Rentenversicherung Mitteldeutschland.

Der Therapieerfolg

„Wir garantieren für einen maximalen Therapieerfolg“, sagt Dr. Meder. Maßstab sei dabei das individuelle Ziel. Bei übergewichtigen Patienten liege der Gewichtsverlust im Schnitt bei einem bis anderthalb Kilo pro Woche. Bei ADHS-Patienten gehe es darum, die Medikamente zu reduzieren oder ganz abzusetzen. Der Mediziner berichtet von einem 16-jährigen Mädchen, das die Reha mit einer hochdosierten Ritalin-Verordnung antrat – und nach der sechswöchigen Therapie regelrecht befreit wirkte. Voraussetzung für den Erfolg sei aber auch die Motivation der Patienten. Wer in den ersten sieben Tagen keinen Willen zeige oder sich nicht in die Gruppe einordne, müsse die Reha abbrechen. Dies geschehe allerdings sehr selten.

Der 18-jährige Henrik Marten wollte das Beste aus der Reha machen. Er experimentierte mit Lebensmitteln, ging viel Schwimmen und abends in den Fitnessraum. „Ich wollte meine Ernährung optimieren und fitter werden“, erzählt er. Und er fuhr mit mehr Elan nach Hause, denn er hatte erkannt: „Ich bin meines Glückes eigener Schmied.“